Fallen Lands – das Leben der Frau Si’ray
by Si'ray on Feb.08, 2009, under Hexen
Si’ray
Mit einem lauten Knall flog die Holztür auf und krachte ächzend gegen die Wand. In der Tür stand eine kleine, zierliche Frau, ihre Augen leuchteten zorneserfüllt und ihre Haare waren trotzt ihres Alters immer noch erstaunlich dunkel. Ihre dürren Arme waren verschränkt und trotzt ihrer eher schwächlich wirkenden Gestalt war ihr Schrei laut und durchdringend:
“Siiiii’raaaay”, hallte es durch den Wald. Ihr Kreischen schreckte einige schwarze Krähen auf, die sich vor Überraschung laut schimpfend von ihren Ästen erhoben und aufgescheucht umherflogen.
Grummelnd drehte sich die alte Frau auf den Fersen um und stapfte wütend zurück in die kleine Hütte. Das nutzlose Mädchen war mal wieder aus dem Haus gegangen, ohne ihre Arbeit zu tun. Nicht einmal ihr Bett war gemacht, die Decke lag achtlos in der Ecke, und auch der Kessel war nicht sauber und sie hatte nicht die Kräuter geholt, die sie ihr aufgetragen hatte zu suchen. Mit sturem Blick kratze sie mit ihren Fingernägeln über den verrußten Kessel, der über der Feuerstelle hing. Das schrille Geräusch ließ ihr eine Gänsehaut über den Rücken laufen, doch irgendwie musste sie ihrem Ärger Luft machen. Wahrscheinlich trieb sie sich wieder irgendwo im Wald herum oder jagte kleine Tiere mit diesen Bauernlümmeln. Primitives Pack. Sie würde…
Doch sie wurde jäh aus ihren Gedanken gerissen als ein junges Mädchen keuchend in die Hütte gelaufen kam. Sie war hübsch, kaum 17 Jahre alt. Ihre leuchtend roten Haare fielen ungebändigt um ihr zierliches Gesicht und ihre dunklen Augen sahen die alte Frau schuldbewusst, aber auch listig an, so als wüsste sie ganz genau, wie sie die Wut ihrer Großmutter besänftigen konnte.
“Da bist du ja endlich“, fauchte sie Si’ray an. “”Tu gefälligst deine Arbeit, bevor du dich herumtreibst. Ich kann nicht alles machen, ich bin eine gebrechliche, alte Frau. Ich weiß schon warum deine Mutter dich nicht wollte. Sie wusste ganz genau was eines Tages aus dir werden würde. Und wie dankst du mir meine Großzügigkeit? Du solltest lieber froh sein dass sich überhaupt jemand deiner angenommen hat.“
“Natürlich Großmutter, ich weiß doch dass ich dir so viel zu verdanken habe“, antwortete Si’ray. Ihre Großmutter schien den ironischen Unterton nicht zu bemerken und das junge Mädchen konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, kaum dass sich ihre Großmutter umgedreht hatte und leise vor sich her murmelnd zu den mit allerlei Gläsern, Kräutern und anderen merkwürdigen Dingen vollgestellten Regalen schlurfte.
Im Dorf erzählte man seltsame Geschichten über die alte Frau. Manche hielten sie für eine Hexe, andere für eine wahnsinnige, verbitterte Frau. Die Tatsache, dass sie allerlei verschiedene Tränke herzustellen vermochte und man ihr nachsagte, sogar Tote wiederbeleben zu können, verbreitete nur die Angst vor ihr, so dass Leute tuschelnd die Köpfe zusammensteckten, wenn sie zu einem ihrer seltenen Besuche in die Stadt kam. Die Meinungen über Si’ray jedoch waren gespalten: Einige Leute hatten großes Mitleid mit ihr, sagte man doch, dass ihre Mutter bei ihrer Geburt gestorben wäre und Si’ray deswegen bei ihrer griesgrämigen Großmutter aufwuchs. Diese jedoch hatte das Kind nie gemocht, ihre Trauer über den Verlust der Tochter war zu groß, um ihrer Enkelin die liebevollen Gefühle einer Mutter entgegen zu bringen.
Andere hingegen hatten nur verächtliche Blicke für sie übrig, war sie doch ebenso seltsam und unheimlich wie die alte Frau. Bei den jungen Männer allerdings war sie beliebt, nicht nur wegen ihres schön anzusehenden Körpers, sondern auch für ihr freizügiges Auftreten. Sie ließ es sich nicht nehmen, in vollen Tavernen nach jungen Kriegern Ausschau zu halten, um ihnen dann den Kopf zu verdrehen, wofür sie nicht selten ein warmes Mahl oder auch Schmuck bekam, die sie mit einem bezaubernden Lächeln annahm, bevor sie lachend und mit zurückgeworfenem Haar aus der Taverne lief und verdutzte oder sogar enttäuschte Gesichter zurückließ.
Die Zigeuner
Nachdem Si’ray ihre Arbeit im Haus erledigt hatte nahm sie den alten Weidenkorb und lief singend und gutgelaunt aus der Hütte. Die Anwesenheit ihrer Großmutter bedrückte sie immer, doch draußen, im Wald, in der Natur konnte sie aufatmen und musste sich nicht den Launen der alten Frau fügen. Obwohl sie mit der Zeit gelernt hatte, sie milde zu stimmen und trotzdem noch ihren Willen durchzusetzen. Man konnte Si’ray einfach keine böse Absicht unterstellen, es war fast unmöglich den dunklen, traurigen Augen des jungen Mädchens etwas abzuschlagen.
Si’ray kannte den Wald sehr gut und wusste, an welchen Plätzen sie welche Kräuter finden würde. Zielstrebig lief sie zwischen den Bäumen umher, kniete hier und da nieder um ein Nachtschattengewächs oder einen Pilz zu pflücken, zupfte ein paar süße Beeren von den Sträuchern und verharrte einen Augenblick im kühlen, klar sprudelnden Wasser des kleinen Baches.
Sie wollte sich schon wieder auf den Heimweg machen, denn die Dunkelheit war hereingebrochen und das strahlende Blau des Himmels wurde langsam vom blassen Rot der untergehenden Sonne vertrieben, als sie etwas durch die Stämme schimmern sah. Bunte, leuchtende Farben versteckten sich hinter den Gebüschen und neugierig ging Si’ray näher. Mit jedem Schritt, den sie näher heranging wurden die Stimmen lauter und deutlicher: das frohe, helle Lachen von Kindern vermischte sich mit dem Geschwätz älterer Frauen und den tiefen Stimmen von Männern.
Überwältigt stand Si’ray am Rande der Lichtung und beobachtete das Treiben mit kindlicher Neugierde. Solche Leute hatte sie noch nie zuvor gesehen: Sie waren nicht sonderlich groß, schlank, sogar zierlich, aber ohne dabei in irgendeiner Weise zerbrechlich zu wirken. Ihr Haut war sonnengebräunt und das weiße Strahlen ihrer Zähne hob sich deutlich davon ab, wie auch von ihren langen, schwarzen Haaren. Sie allesamt trugen bunte Kleider, reichlich bestickt und üppiger, goldener Schmuck zierte die Handgelenke, Finger und Hälse von Frauen wie auch Männern.
Langsam verstummte die ausgelassene Stimmung und fragende, aber freundliche Blicke richteten sich auf sie. Eine ältere Frau mit auffälligen Bemalungen auf ihren Händen winkte sie heran. Vorsichtig kam Si’ray näher und setzte sich neben sie auf den hölzernen Pferdewagen. Gespannt kamen die kleinen Kinder angelaufen und zogen tuschelnd und schwatzend an ihren Kleidern und zwei kleine Mädchen machten sich sofort an ihren langen Haare zu schaffen. Überwältigt von den ganzen Eindrücken saß das junge Mädchen zwischen all den Menschen und versuchte auf die vielen Fragen zu antworten. Zwar war Si’ray normalerweise ein wenig schüchternes und offenes Mädchen, doch die Gastfreundlichkeit und Neugier dieser Leute schien sie fast sprachlos gemacht zu haben.
Schnell reichte man ihr noch warmes Brot und getrocknetes Fleisch, und erst nachdem sie ausführlich über ihr Leben erzählt hatte ließen die forschenden Blicke allmählich nach und Si’ray traute sich auch, ein paar Fragen zu stellen. Woher sie kommen würden und wer sie sein, wollte sie wissen. Die Frau neben ihr antwortete ruhig auf ihre Fragen. Es stellte sich heraus, dass diese Sippe zu den Zigeunern gehörte, die rastlos durch das Land zogen, von Stadt zu Stadt, wo sie sich ein wenig Gold verdienten mit artistischen Darbietungen oder kleineren Listen.
Ein neues Leben
Mittlerweile war es Nacht geworden, und das Feuer war heruntergebrannt. Noch immer saßen die Menschen um sie herum und erzählten erlebte Geschichten. Si’ray war fasziniert von dieser Lebensweise, hatte sie doch nie die Freiheit und Unabhängigkeit erfahren, die ein Leben auf der Wanderschaft bot. Immer war sie an ihre Großmutter gebunden. Sie war streng und verbittert und noch nie hatte Si’ray eine andere Stadt gesehen als das kleine Dorf im Tal. Diese Leute hatten die Sehnsucht in ihr erweckt, Neues kennen zu lernen und ein ganz anderes Leben zu führen. Zwar ein einfaches Leben, doch sie war es gewohnt ohne persönlichen Besitzt auszukommen.
Im Laufe dieser Nacht reifte in ihr der Entschluss, ihr altes Leben, ihre Großmutter zu verlassen und mit den Zigeunern bis zur nächsten großen Stadt zu fahren. Es gab nicht viel, was sie hier hielt, und fast schon amüsiert dachte sie daran, wie ihr Fortgang der Großmutter nur Grund geben würde, ihren Hass auf die Welt weiter zu schüren. Doch dieses Mal war es nicht sie, die das Selbstmitleid der launischen alten Frau ertragen würde, und mit einem Schmunzeln stellte sie sich vor, wie sie missmutig und mit den Zähnen knirschend vor ihrem Kessel sitzen und zornig auf das leere Bett blicken würde.
Noch im Morgengrauen brach die Sippe auf und die mit bunten Planen bedeckten Wagen setzten sich in Bewegung. Auf der Fahrt unterhielt sich Si’ray ausgiebig mit der alten Frau. Ihr Name war Romijin und sie war die Älteste der Sippe. Fasziniert hörte sie über die Kunst des Kartenlegens und der Zukunftsvorausdeutung. Dabei lernte sie, dass es hierbei weniger auf Hellseherische Fähigkeiten als auf Menschenkenntnis ankam. Augenzwinkernd verriet Romijin ihr, dass ihr Erfolg darauf beruhe, dass sie den Leuten genau das erzählte, was sie auch Hören wollten. Ein paar Negative Deutungen einzustreuen war keine Kunst und diente nur der Authentizität ihrer Weißsagung.
Si’ray lachte über ihre Worte und wurde sich nicht des langen, durchdringenden Blicks der Frau bewusst. Sie hatte sehr wohl die Kräfte erkannt, die diesem Mädchen innewohnten. Denn obwohl ihre Wahrsagungen meist kleine Abänderungen der Wahrheit zum Wohl der Großzügigkeit der Gäste waren, war Romijin doch keine gewöhnliche Frau. Früher hatte sie sich intensiver damit beschäftigt, doch heute war sie ruhiger geworden und beschränkte sich auf ertragreichere Sachen wir Kartenlesen und Traumdeutung. Damals bereitete es ihr Spaß, andere Leute damit zu erschrecken, plötzlich einen Vogel aus dem Gebüsch auffliegen zu lassen oder ihre Stärke kurzweilig zu vermehren, womit sie schon so manche Wette gegen einen jungen Mann gewonnen hatte, um sich dann an dem schadenfrohen Gelächter seiner Freunde zu belustigen.
Und genau diese Fähigkeit spürte sie auch tief in Si’ray und erkannte doch gleichzeitig ihre Naivität und ihr Unwissen diesbezüglich. Anscheinend wusste sie nichts von ihren Kräften…
Nach einer halben Woche kamen sie in der Hauptstadt an. Si’ray spürte ein unbehagliches Gefühl als sie durch das große, steinerne Stadttor ritten. Ihre Reise mit den Zigeunern würde hier ein Ende nehmen. Hier war sie am Ziel…hier würde sie ein neues Leben beginnen. Doch je weiter sie in die Stadt ritten, desto mehr sträubte sie sich gegen den Gedanken, sich von diesen Leuten zu trennen. Die schönen Abende um das Lagerfeuer hatten sich unvergesslich in ihre Erinnerung eingebrannt. Mit der Zeit hatte sie diese Menschen näher kennen und ihr einfaches, aber erfülltes Leben schätzen gelernt. Innerlich spürte sie, dass sie auch dieses Leben führen wollte, auch wenn es oft anstrengend war und man ihnen nicht immer mit Freundlichkeit und Gastfreundschaft entgegen kam. Und so entschloss sich Si’ray, weiter mit den Zigeunern zu reisen und eine Weile bei ihnen zu bleiben.
Schnell gewöhnte sich das junge Mädchen an das Leben und genoss es in vollen Zügen. Sie freundete sich mit kaum älteren Jungen Ghashna an und lernte von ihm, wie Zigeuner ihr Gold verdienten. Ihre Taktik war einfach, und doch war sie meistens von Erfolg gekrönt: Si’ray und Ghashna suchten sich eine volle Taverne aus, in der das hübsche Mädchen meist sofort die Blicke der Männer auf sich zog und den belustigten Rufen der angetrunkenen Abenteuer folgte, sich doch zu ihnen zu gesellen. Während Si’ray die Männer mit einem aufreizenden Tanz ablenkte, suchte Ghashna mit seinen schnellen, geschickten Fingern, den Weg in die Goldbeutel der Männer und nahm sich den „Lohn“ für ihre Darbietung. Schnell hatten die beiden herausgefunden, welche Männer am einfachsten zu verführen waren und welche sich am leichtesten von ihren Münzen trennten.
Hatte Ghashna ihnen auf diese Weise eine warme Mahlzeit erbeutet, sprang Si’ray schnell von der Bank und sammelte hastig die Goldmünzen auf, die ihr die Männer zuwarfen. Lachend verschwand sie dann wieder aus der Taverne, und noch bevor die Männer den Diebstahl bemerkten, waren sie auch schon in einer der zahlreichen, kleinen Gassen verschwunden und suchten im Gedränge der Stadt Schutz.
Doch nicht nur von ihm lernte Si’ray, auch Romijin brachte ihr einiges bei. Zunächst lehrte sie ihr das Kartenlesen und ein wenig Hellsehen. Doch schon bald merkte sie, dass Si’ray nicht nur talentiert sondern auch wissbegierig war, und bald darauf hatte sie alles gelernt, was Romijin ihr beibringen konnte. Die kleinen Kinder liebten ihre Tricks, und vor allem wenn sie ein paar würzig riechende Kräuter in süßes Gebäck umwandelte scharten sich viele hungrige Gesichter um sie herum.
So vergingen 2 Jahre und Si’ray war ihrer „Familie“ immer ähnlicher geworden: auch ihre Haut war von der Sonne dunkler geworden und sie war selbstbewusst und gewitzt genug, um sich jeder Situation schnell anzupassen und auf ihre Vor- und Nachteile für sie einzuschätzen. Dennoch war sie anders, und sie spürte, dass diese Andersartigkeit sie von ihrer Familie fort trieb. Anfänglich hatte sie das Umherziehen geliebt. Sie hatte viel gesehen, viele Landschaften, Städte und Menschen kennen gelernt. Vieles war so neu für sie gewesen und sie hatte jede neue Erfahrung tief in sich aufgenommen und dort in Erinnerung bewahrt. Doch sie spürte auch eine innere Unruhe. Die Zigeuner hatten kein Ziel, sie waren rastlos und nirgendwo zu Hause; sie besaßen keine feste Heimat, keinen Ort, an dem sie freudig willkommen wurden, keinen Platz, auf den sie sich freuten, dorthin zurück zu kehren um mit Verwandten und Freunden glücklich zusammen zu sitzen und sich Geschichten zu erzählen.
Doch Si’ray vermisste diese Stetigkeit. Sie brauchte etwas in ihrem Leben, etwas Festes, etwas das bleiben würde, wohin sie auch ging. Eine Heimat, an die sie sich gerne zurück erinnern würde wenn sie in der Ferne vor Kälte an einem kleinen Lagerfeuer zitterte.
Und so beschloss sie, die Zigeuner zu verlassen. Sie hatte von ihnen gelernt, was es bedeutet, ein Lebenskünstler zu sein und dieses Wissen würde ihr wahrlich von Nutzen sein, wenn sie sich allein in die Welt wagen wollte. Sie wusste, sie würde ihre Familie vermissen, doch genau so wusste sie, dass sie sie nicht das letzte Mal gesehen hatte und so machte sie sich voll Neugier und freudiger Erwartung auf ihren Weg…